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15/06/2020 Hinterher schlauer sein

Eine Pandemie wirft die Regeln des Miteinanders über den Haufen. Auf Abstand gehen lautet das Gebot der Stunde. Man könne gar nicht vorsichtig genug sein, heißt es. Denn das Virus ist klein und gemein. „Es gab Mitarbeiter, die sofort abgeschirmt von Klienten arbeiten wollten, am liebsten im Home Office. Und es gab Mitarbeiter, die sich für unantastbar hielten, da musste ich bremsen, damit sie sich nicht gefährdeten,“ erinnert sich der Leiter einer Einrichtung.

Wir müssen mit dem Virus leben

Hinterher sei man schlauer. Sagt der Volksmund. Das Volk hat Angst, denkt der Reporter und nimmt sich vor, herauszufinden, was da Angst macht. Nur das Begreifen des Geschehenen macht schlauer. Denn das Virus ist in der Welt. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Wer rechnete im Februar mit einem so langen Aussetzen des gesellschaftlichen Lebens? Als
Ostern keine Entwarnung kam, wuchs die Hoffnung, Pfingsten könnte die Erlösung bringen. Aber noch immer lauert das Virus. Also gilt die Maskenpflicht. Vorsicht ist geboten. „Unsere Berater*innen waren immer mit den Menschen in Kontakt,“ betont Andrea Makies, kaufm. Geschäftsführerin. Wo immer es möglich war, hätten die Berater*innen direkte, persönliche Kontakte aufrechterhalten, z. B. in den Kitas und in der Wohnungslosenhilfe. „Wir sind aus Fürsorge vorsichtig, nicht aus Angst. Ich möchte manchmal schneller sein. Aber das ist ein Prozess, in dem wir alle mitnehmen.“

Aus Erfahrungen lernen

Oft sind die Maßnahmen gegen die Pandemie als Experiment beschrieben worden. Auch die Diakonie muss daraus lernen, so wie die gesamte Gesellschaft. Fest steht jedenfalls: In Krisen wie dieser sind nicht nur Virologen gefragt. Sondern auch Soziologen und andere Disziplinen. Vor allem aber braucht es Seelsorger im weitesten Sinne. „Ob in der Beratung für Migrant*innen oder für Suchtkranke oder in der Gemeindediakonie: Wir sehen in der diakonischen Arbeit den ganzen Menschen. Uns sind z. B. Kontaktsperren schwer gefallen. Darüber können wir offen und selbstbewusst sprechen“, erklärt Diakoniepastorin Maren von der Heyde.

Andrea Makies ergänzt: „Wir werten unsere Erfahrungen aus, die wir mit telefonischer Beratung, mit Anleitungsvideos oder Video-Konferenzen gemacht haben. Richtig genutzt, erweitern moderne Medien unser Spektrum und helfen uns mit Menschen in Kontakt zu kommen, die bisher noch nicht den Weg zu uns gefunden haben.“

Krisen eröffnen Chancen. Die Diakonie nutzt sie, indem sie Öffentlichkeit herstellt. Mitarbeiter, Klienten, Interessierte sind aufgerufen mitzureden. Jede Woche hier im Blog Niemals ratlos.

08/06/2020 Öfter online auf Draht

Ein Termin platzt. Auf die Schnelle muss ein neues Thema her. Der Reporter hat zum Glück ein paar Adressen: „Sonst gern, aber wir bereiten gerade ein Audit vor“, erklärt Karen Schueler-Albrecht. Und dann, mit dem Gespür der erfahrenen Beraterin: „Wann können Sie hier sein?“ Eine Stunde später klingelt der Reporter an der Tür des Pinneberger Katharina-von-Bora-Hauses.

Die Leiterin des Diakonievereins Migration lässt dem Reporter einen Spalt offen. Verbindlich, aber unerbittlich heißt es für die wartende Familie: „Holen Sie sich bitte einen Termin.“ „Unglücklich“, findet Frau Schueler-Albrecht das, gelinde gesagt. „Wir sind ja für die Leute da.“

Beratung wird flexibler

Corona hat zumindest das Interesse an Sprachkursen nicht geschmälert. „Wir suchen jetzt größere Räume, wegen des Abstandsgebots.“ Hat das Virus auch positive Folgen? Da muss sie nicht lange überlegen. Die Skepsis gegenüber der virtuellen Konferenz sei groß gewesen. Manche Sitzung, die nicht an einen Standort gebunden sei, könne jedoch gut online laufen. Im Flächenland Schleswig Holstein kommt da einiges an gesparter Zeit zusammen. Auch das Home Office habe sich für Mitarbeiter*innen bewährt. „Wir überlegen, die Arbeit so zu strukturieren, dass ein Tag in der Woche zu Hause gearbeitet werden kann. Niemand muss ins Büro, um Statistiken zu erstellen.“

Und noch eines sei überraschend gewesen. „Es ist jetzt so ruhig hier.“ Nein, sie meint nicht das, was dem Reporter einfällt: „Die Leute stören hier nicht. Seit dem Wegfall wird deutlich, wie anstrengend die offenen Sprechstunden waren. Für die Ratsuchenden, die lange in den Fluren warten mussten und für die Berater*innen, die sich von den ungeduldig Wartenden gedrängt fühlten. „Termine sind persönlicher, entspannter und effektiver. Die Beratung muss niedrigschwellig sein, aber vielleicht finden wir neue Formen.“

Der Spalt vertieft sich

Dann wird das Gespräch doch noch nachdenklich. „Wir haben unsere Berater*innen aus den Flüchtlingsunterkünften abgezogen. Die Enge dort erhöht die Ansteckungsgefahr. Telefonisch haben wir Kontakt gehalten, so gut es ging.“ Das ist ein Trend in diesen Tagen: Wer kein Smartphone hat, wer nicht telefonieren kann, weil er oder sie sich nicht traut, kommt ins Hintertreffen. Die Teilung der Gesellschaft vertieft sich, wenn niemand gegensteuert. „Wer soll die Wohnungen bezahlen, die gebraucht werden?“. Die Expertin ist zum ersten Mal ratlos. Dem Reporter fallen die vielen Milliarden ein, die jetzt zu Hilfspaketen geschnürt werden.

Das war effektiv, denkt der Reporter in der S-Bahn nach Hamburg und hackt die ersten Sätze ins Laptop.

Entladen des Tafel-Lieferwagens Foto:S. Moes

Helfer in der Not

Fast einhundert prall gepackte Taschen mit Lebensmitteln haben die ehrenamtlichen Helfer*innen aus dem Lieferwagen der Hamburger Tafel geholt und vor dem Gemeindehaus der St. Michaels Kirche in Iserbrook aufgereiht.

Jetzt nehmen sie noch einen Kaffee. „Ich tue hier etwas für die alten Leute im Viertel,“ erklärt Margret. Sie hat Kuchen mitgebracht und verrät ungefragt, sie sei 93 Jahre alt. Voll die Risikogruppe: gut, dass sie allein lebt und selbst entscheidet, wohin sie darf. „Margret organisiert alles für unser Wohlbefinden“, erzählt Lisa. Sie ist vorzeitig in Rente. „Ich bin auf die Tafel angewiesen, nicht nur wegen der Lebensmittel.“ Normalerweise hilft die 60-Jährige, einen Stand mit dem Angebot der Tafel aufzubauen. Lisa erzählt, wie sie beim Verteilen der Lebensmittel bedürftige Menschen ansprechen, aus der Einsamkeit locken und mit ihnen feiern.

Geht´s gut. Ja, es geht gut.

Jetzt stehen die Wartenden über das Kirchengrundstück verteilt, vereinzelt, auf Abstand.  Jede bekommt eine Tüte. „Nein, nicht zwei, nur eine“, erklärt Annette, die seit 13 Jahren beim Essenverteilen mitmacht. Sie stellt eine Tüte auf einen Tisch, tritt zwei Meter zurück, die Bedürftige geht nach vorn und holt sie sich. „Geht´s dir gut“, ruft Annette. Ja, es geht gut.

Ein Mann hat keine Maske dabei. Annette will wissen, ob er mit dem Bus gekommen ist. Er führt einige kurze Schritte vor. „Aha, zu Fuß“, sagt Annette. Seit fünf Jahren lebe er mit seiner Familie in Hamburg, erfährt der Reporter. „Der junge Mann kümmert sich rührend um seine Kinder“, weiß Margret.

Sprachlose Armut

Vor kurzem begleitete der Reporter Helferinnen der Obdachlosentagesstätte MAhL ZEIT in Altona, die auf Weisung der Stadt geschlossen ist. Ihre Gäste fanden sie auf den Treppen am Altonaer Bahnhof. Polizeibeamte schritten ein, wenn sie sich zu nahe kamen. Auch dort viel Dankbarkeit über Tüten mit dem Lebensnotwendigsten. Menschen brauchen nicht viel, dachte der Reporter. Aber wer sich über bescheidene Gaben so ausgiebig freut, hat sich wahrscheinlich aufgegeben. Und was erzählt ein fürsorglicher Vater seinen Kindern, wenn er in der Unterkunft die Konserven auspackt, über die Stadt, in der er lebt, ohne Deutsch zu sprechen? Die Maßnahmen gegen das Virus machen augenfällig, was es bedeutet, arm zu sein. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, fällt ihm Bertolt Brecht ein. Ratlos schwingt sich der Reporter aufs Rad. „Abstand ist die neue Nähe“, liest er auf einem Plakat. Könnte von mir sein, denkt er und tritt in die Pedale.

Nicht nur überleben

Als vor acht Wochen Tischler ein Regal im Haus der Kirche in Hamburg Niendorf ausliefern
wollten, begriffen sie plötzlich, wie sehr die Maßnahmen gegen das Corona-Virus ihren Alltag verändern würden. Das Gebäude war für Besucher geschlossen. Drinnen wienerten, putzten und wischten Frauen Klinken, Tische und Abstellflächen. Eine seltsame Atmosphäre… bis sich
eine Mitarbeiterin ein Herz fasste: sie ließ die Handwerker das Regal aufstellen.

Andrea Makies, Geschäftsführerin der Diakonie Hamburg-West/Südholstein, findet genug
Argumente es so zu machen. Wichtiger sei jedoch, dass in den Einrichtungen offen
gesprochen werden kann. „Wir lernen während wir entscheiden. Den offenen Blick müssen
wir uns erhalten.“

Denken vom Worst Case her

Denn das gesellschaftliche Klima ist rauher geworden. „Verschwörungstheoretiker“ gewinnen Anhänger. Zu solchen werden auch Menschen gestempelt, die „in Zeiten des Virus“ weiterhin kritisch denken. Die Journalistin Jana Simon portraitiert in der aktuellen Ausgabe des Zeitmagazins eine angesehene Virologin. Unbefangen sprach sie im Radio aus, was in der Forschung keine Außenseiterposition ist: das Corona-Virus sei „kein Killer“. Es sei nicht nötig, Kitas und Schulen zu schließen und sogar Kinderspielplätze zu sperren. Ein gewaltiger „Shitstorm“ in den sozialen Medien war die Folge. Das Radio distanzierte sich von ihr.

Die Maßnahmen orientieren sich am Worst Case. Ausschließen, isolieren. Viele wagten nicht, ihre Angehörigen zu besuchen. Vor Supermärkten, in Buchläden: Überall werden wir zur Desinfektion angehalten. Fast überall sollen wir tragen, oft auch Handschuhe. Viele zweifeln. Und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

Herausgeforderte Kirche

Beraterinnen und Berater sollten „zeigen, dass wir ein Netz der Nächstenliebe wirklich knüpfen können.“ So zog Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie die Linie, an der sich Beratung orientieren muss. Der Umgang mit den Schwachen sei für die Kirche entscheidend, betonten die Bischöfe der Nordkirche. „Möglicherweise wird hier bereits die Kirche von morgen sichtbar, die sich ohnehin in neuen Formen vollzieht. Eine Kirche, die existenziell herausgefordert ist durch gesellschaftlichen Wandel.“

So wie die Diakonie lernte auch die Kirche. Blieben Ostern die Kirchen zu, probieren Gemeinden zu Pfingsten einen kreativen Umgang mit der Krise: „Gottesdienst im Garten des Pastorats. Die aktuellen Regeln bezüglich des Corona-Virus sind einzuhalten.“ Das könnte es sein: Die Regeln so anwenden, dass sie Leben ermöglichen.

 

Beratung gegen die Angst

Science Fiction? Regionale Krisengebiete. Eingeschränkte Persönlichkeitsrechte, digitale
Kontrolle des Lebenswandels, Quarantäne beim Verdacht auf Infizierung. Menschen, die
möglichst kontaktarm leben. Das könnte Alltag werden. Die nächsten Corona-Wellen werden kommen, prophezeien die Virologen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Maßnahmen ihrer Regierung als „demokratische
Zumutung“ bezeichnet. Jetzt werden Lockerungen diskutiert. Und für die Westdeutschen könnte die Rückkehr zur Normalität den größten Einschnitt seit 1948 markieren (1990 veränderte die westdeutsche Gesellschaft nicht einschneidend, zumindest nicht „gefühlt“). Damals, mit der Währungsreform, begann der ökonomische Aufstieg Deutschlands. Was kommt jetzt? Wer verliert sein Geschäft? Wer wird arbeitslos? Wieviele Partnerschaften sind zerbrochen, wieviele Lebenswege geknickt?

Fragen bleiben offen

Am Anfang forderte die Pandemie-Abwehr Zeit und Energie. Unter Druck musste gehandelt werden. Orientierte sich die Diakonie zu Recht streng an den Gesetzen? Gab es keine
Alternative? Immer noch ist es schwer, den richtigen Ton zu treffen. In Deutschland starben fast 8.000 Menschen durch das Virus. Es herrschte Angst.

Andrea Makies, Geschäftsführerin der Diakonie Hamburg-West/Südholstein, erinnerte zu Beginn: „Diakonie heißt, trotz eigener Ängste für andere da zu sein.“ Viele haben ihre alten und kranken Angehörigen zwei Monate lang allein gelassen – eine leidvolle Entscheidung. Wie thematisieren wir Angst? Wieviel Online-Kommunikation verträgt der Mensch? Ist es wünschenswert „kontaktarm“ zu leben? Das könnten Fragen an die Beratungspraxis sein.

Andrea Makies erlebte, wie lebensbedrohlich das Virus ist. Eine Freundin landete mit schwerem Verlauf im Krankenhaus. Und doch: die weitaus meisten Erkrankten kamen mit relativ leichten Symptomen davon. Wie verhindern Berater*innen Verharmlosungen, wie vermeiden sie falschen Alarm?

Unabsehbare Folgen

Die vielen Todesfälle in den USA zeigen, was das Virus anrichtet in einer Gesellschaft, die sozial auseinander fällt. Das soziale Netz in Deutschland ist weit von diesen Zuständen entfernt. Das müsse so bleiben, sagt Andrea Makies: „Der politisch gewollte Wettbewerb im sozialen Bereich darf nicht zu Lasten der Qualität gehen. Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen versorgt werden.“

Noch sind die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie nicht absehbar. Es geht um den Erhalt des Sozialstaats. Es geht letztendlich um die Frage: wie wollen wir leben? Gute Beratung muss Antworten finden.

Fortgesetzte Ausgrenzung

Nachgefragt in der Stadteildiakonie Sülldorf/Iserbrook, wo Susanne Alms de Ocana vom home office aus berät. Klient*innen, die telefonisch nicht gleich durchkommen, finden – wenn es z. B. um Fragen zu Anträgen geht – professionelle Hilfe. Das Netz der Beratungsstellen bewährt sich in der Krise. „Ich habe viele Menschen beraten, die durchs Internet auf mich gekommen sind.“

Wer nicht gewohnt ist, Dokumente einzuscannen, fällt natürlich raus. Aber auch denen konnte sie weiterhelfen: freitags an der frischen Luft, wenn hier Lebensmittel ausgegeben werden. „Eines dürfen wir nicht unterschätzen: die Leute fragen in ihren Kreisen nach und finden, was sie brauchen.“

Online-Schule schließt arme Kinder aus

Allerdings zeige sich bei der Lebensmittelausgabe das Ausmaß der Verarmung in der Stadt. Nun grenze die Digitalisierung des Schulunterrichtes die Kinder der Armen aus. Vergeblich bemühte sich die Beraterin um Geld für einen Computer für eine Schülerin, deren Unterricht auch künftig zum Teil online organisiert wird. Das Sozialamt verwies an die Schule. Doch die verfügt über keine Mittel. „Man hat die von Sozialhilfe lebenden Familien einfach vergessen. Unfassbar.“

Unfassbar auch, weil die Pandemie zeigt, wie wichtig die sozialstaatliche Absicherung gegen Armut und Krankheit ist. Schlechte Ernährung, auszehrende Arbeitsverhältnisse, das erzwungene Leben auf engstem Raum von Menschen, die mit ihrem Arbeitseinkommen keine Wohnung finanzieren können, auch Obdachlosigkeit: solche Faktoren erhöhen das Risiko, dem Virus zum Opfer zu fallen. Das zeigte sich in den USA, aber auch in Deutschland, wo die prekären Arbeitsverhältnisse in Schlachthöfen zu Infektionen führten.

Auch in Viruszeiten: den Menschen nah

Nach acht Wochen werden Lockerungen diskutiert. Die Beraterin will selbst entscheiden, wann sie aus dem home office in die Beratungsstelle zurückkommt. Viele Ratsuchende gehörten zur Risikogruppe. Solange es keine Tests gebe, gehe Vorsicht vor. Das Bedürfnis ihrer Ehrenamtlichen, bald wieder aktiv die diakonische Tätigkeit aufnehmen zu wollen, kann die Sozialpädagogin gut nachvollziehen. „Ich bin für diese Mitarbeiter*innen verantwortlich. Ich werde sie deshalb schützen. Wir treffen uns in einem großen Raum, bleiben auf Abstand.“

Erstes Resumee: das Telefon habe sich bewährt. „Ich habe gerade anfangs, als die Unsicherheit so groß war, viele Gespräche mit ängstlichen Menschen geführt. Das ging gut, da entstanden Kontakte, da war ich nahe an den Menschen.“

Ohne Vision keine Spenden

Noch sind die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie nicht absehbar. Viele Spender*innen verhielten sich deshalb abwartend, weiß Gunnar Urbach, Senior-Fundraiser des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein. Umso mehr müssten die Verantwortlichen in den Einrichtungen des Diakonischen Werks jetzt den persönlichen Kontakt zu den Spender*innen pflegen. Sie brauchen ungeschönte, offene Informationen „aus erster Hand“. Denn wer spendet, habe ein Recht zu erfahren, wie es der geförderten Organisation in der aktuellen Situation geht. „Die Kommunikation mit den Spender*innen ist das A und O.“

Das Menschliche hervorheben

Den Ausschlag geben aber nicht die nackten Faken, erklärt der Pastor. Wichtig sei es, die Chancen für die Menschen heraus zu stellen. Die „Kirchenkaten“ einer Norderstedter Kirchengemeinde für Menschen in Altersarmut überzeugten, weil den Spender*innen vermittelt wurde, wie viele neue Lebensmöglichkeiten die wenigen Quadratmeter eröffneten. Bis hin zu der Möglichkeit, sich ein Treffen mit einer Freundin in einem Café leisten zu können. Beim Norderstedter Frauenhaus gelang es, den Geldgeber*innen klar zu machen, wie Frauen langfristig den Ausweg aus der Gewaltspirale schaffen können.

Nachhaltig für Spenden sorgen

„Je größer die Spende, desto größer der Wunsch, nachhaltig Wirkung zu erzielen.“ Wer Geld gebe, wolle etwas Positives erreichen und sehe sich keineswegs als Lückenbüßer. Viele Spender*innen sehen sich als Investor*innen und schauen vor allem auf die soziale Rendite. „Wir müssen umdenken, es reicht nicht, ein Loch in der Kasse mit Spenden flicken zu wollen. Wer Spenden einwerben will, braucht eine Vision, sagt der erfahrene Fundraiser: „Wir haben etwas vor, das die Welt besser machen wird. Wenn man mit solch einem positiven, überzeugend gestalteten Prospekt auf Geldgeber*innen zugeht, kann das schon die halbe Miete sein.“

 

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Stefan Moes     Schreibtischler      moes@hamburg.de

Die Armut abschaffen

Darf man Spenden annehmen und trotzdem seinen Ärger über die Abhängigkeit von Geschenken formulieren? Würde eine kritische Äußerung Spender von ihrem notwendigen Tun abbringen? Susanne Alms de Ocana fragt sich das während des Gesprächs über ihre Arbeit im Schatten des Corona-Virus. Ihr ist anzumerken, wie es in ihr arbeitet.

Normalerweise findet sie der Besucher im Büro der Stadtteildiakonie Sülldorf/Iserbrook auf dem Gelände der Kirche. Dort hängt jetzt der Hinweis: bitte rufen Sie an. Die Menschen machen davon Gebrauch. Fast pausenlos telefoniert die Diakonin im Home Office.

Klima der Angst

Bei allem, was man tut oder nicht, spielt in diesen Zeiten Angst eine Rolle. Niemand möchte andere Menschen mit der Grippe anstecken. Wer sich schützt, zeigt damit zugleich seine Verantwortung für andere. Wenn die Bedürftigen freitags zur Essensausgabe kommen, freut sich Frau Alms de Ocana, dass es immer mehr werden. Anfangs kamen 20, am Freitag letzter Woche rund 100. Schön, dass sie sich vor die Tür begeben, raus aus der Isolation, denkt sie. Sie weist auf die Markierungen auf dem Boden hin. Aber das ist überflüssig, merkt sie schnell. Die Menschen raben die Regeln verinnerlicht. Und dann freut sie sich, wenn alle schnell wieder gehen.

Im allgemein von Angst bestimmten Klima ist es schon mutig, wenn ein Lehrer („ich habe jetzt Zeit genug“) für eine an der Corona-Grippe erkrankte Mutter mit vier Kindern einkauft. Die Kranken dürfen nicht raus. Sie leiden. Mehr unter der Quarantäne als unter den Symptomen, die zum Glück mild bleiben.

Corona zeigt Ausmaß der Armut

Frau Alms de Ocana erzählt, was es heißt, vom Regelsatz der Sozialhilfe zu leben. Wer davon ausgeht, wie die Beamten, die den Bedarf berechnen, dass man für zwei Euro ein Mittagessen kochen kann, hat schon lange nicht mehr eingekauft. jetzt, wo Schulküchen und Tafeln geschlossen bleiben, geht alles für Mahlzeiten drauf.

Eine Schülerin braucht einen Computer. Dafür gibt ihr das Amt 150 Euro. Kein Händler gibt ihr dafür einen Rechner. Ein Drucker (die Schule lässt die Kinder nichts drucken) und Druckerpatonen fehlten dann noch. „Jetzt wird das Ausmaß der Armut deutlich. Ich finde es unerträglich, wie sich der Staat zurückzieht,“ sagt die Beraterin. Der gute Wille der Spender werde missbraucht. Und die Beschenkten schämten sich für ihre Abhängigkeit von den Wohlhabenden. Der Staat muss seine Verantwortung erkennen, was da in ihr arbeitet, ist ihre Ungeduld: Zeit, etwas gegen die Armut zu tun.

Verantwortung in der Krise

Gefragt, ob er in der Haut der Politiker stecken möchte, die entscheiden, wie das Corona-Virus eingehegt wird, lacht Peter Svejda. „Natürlich. Es reizt mich, Verantwortung zu übernehmen.“ Seit Anfang März muss der 34-Jährige als Leiter der Pinneberger Wohnraumnotfallhilfe zeigen, was er drauf hat. Wer ihm zuhört, merkt, hier spricht ein Mann, der weiß, was er kann.

Bisher kennt er seine Einrichtung nur im Ausnahmezustand. „Wir mussten gegen die Angst vor dem Virus angehen“, sagt er. Doch jetzt gehe es in die nächste Phase. „Die Distanz, die Beschränkung aufs Telefon, war nötig. Aber per Telefon Akten zu beschaffen und Anträge zu stellen, war zu umständlich. Wir experimentieren jetzt. Die beste Lösung könnten Beratungsplätze mit Trennscheiben sein.“

Die Existenzgrundlage sichern

Peter Svejda sammelte seine ersten Erfahrungen mit sozialer Arbeit in einem dualen Studiengang, als er Obdachlose betreute. Das war in seiner Heimatstadt Stuttgart. „In dieser Szene nimmt man kein Blatt vor den Mund, das fand ich gut.“ Konkret helfen zu können, im direkten Kontakt mit schwierigen, eigenwilligen Menschen: das motivierte ihn.

Seine Beratungsstelle soll Obdachlosigkeit verhindern und Menschen, die keine Wohnung haben, wieder zu einer Bleibe verhelfen. Wenn bei Besichtigungen 20 und mehr Bewerber*innen um den Mietvertrag kämpften, hätten seine Klient*innen keine Chance. Und die Corona-Krise verschärfe die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Seine Beratungsstelle konzentriert sich darauf, die Menschen zu stabilisieren und die Existenzgrundlagen zu sichern.

Die Grenzen der Sozialarbeit

Mit Sorge sieht der Einrichtungsleiter, dass im Kreis Pinneberg Gerichte Menschen zwingen, ihre Wohnungen zu verlassen. Viele finanzierten sich mit prekären Jobs. Falle in einem solchen Konstrukt eine Komponente weg, stürze das gesamte Kartenhaus ein. Schnell sammelten sich Mietschulden an.

Niemand soll durch Corona obdachlos werden. Deshalb sind Kündigungen verboten. Dennoch müssen auch jetzt Menschen ihre Wohnungen verlassen. Sie bekommen gerade mal eine Stunde zum Packen. Dann landen sie in Unterkünften. Der Grund: Die Notlagen, die jetzt verhandelt werden, sind vor einem Jahr entstanden. „Auf die Richter haben wir keinen Einfluss“, sagt Peter Svejda. „Unsere Berater tun, was sie können. Ich spreche mit Politikern und finde dort Unterstützung.“ Hilflos zu sein, passt nicht zu Peter Svejda.

Die Chancen nutzen

„Das Vertrauen ist wieder da“, erklärt Barbara Grünberg erleichtert. Die Therapeutin hat gerade intensive Telefon-Sitzungen mit suchtkranken Menschen hinter sich und empfängt den
Besucher im Veranstaltungsraum, der bald auch für Therapiegespräche geeignet sein soll. Sechs Sitzplätze mit kleinen Tischen bieten ausreichend Abstand. Die stellvertretende Leiterin des Lukas Suchthilfezentrums Hamburg-West kam zu Beginn der Schutzmaßnahmen gegen das Corona Virus kaum zur Ruhe. „Wir mussten die Anordnungen der Behörde erfüllen, den Betrieb umorganisieren und zugleich unseren Klientinnen und den Ratgebenden Mut machen.“

Nicht nur die Angst, sich mit dem Corona Virus zu infizieren, grassierte. Die notwendige
Umstellung der Beratung auf Gespräche am Telefon sorgte für Unruhe. Suchtkranke sind
instabil, viele leiden an Depressionen, manche gelten als suizidgefährdet, aber nur in Ausnahmefällen können Gespräche im direkten Kontakt geführt werden. In der Krise bewähre sich das professionelle Engagement der Beraterinnen, lobt Frau Grünberg. Niemand sei verloren gegangen. „Wir sind jetzt in der Spur. Je länger der Ausnahmezustand dauert, desto mehr Bedeutung bekommt die wirtschaftliche Sicherung.“ Viele hätten kleine Gewerbe. Weitere Wochen mit persönlichen Einschränkungen brächten sorgfältig ausgearbeitete Schuldenpläne ins Rutschen.

Den diakonischen Auftrag leben

„Wir erleben gerade die tiefste gesellschaftliche Krise in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, ist sich Andrea Makies sicher. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Maren von der Heyde hält die kaufmännische Geschäftsführerin der Diakonie Hamburg-West/Südholstein Kurs: „Jetzt können wir uns als Diakonie beweisen und trotz eigener Ängste für die notleidenden Menschen einstehen.“

Die Einrichtungen müssten natürlich die Regeln des Gesundheitsschutzes beachten, sagt
Andrea Makies: „Wir brauchen einen Ideenwettbewerb. Wir müssen Gestaltungsräume ausmachen – immer unter dem Gesichtspunkt: Was nützt den Menschen?“

Beratung braucht Ideen

Barbara Grünberg fürchtet, eine Rückkehr zur Normalität könne lange dauern. „Und dann werden Online-Beratungen selbstverständlich sein. Wir müssen dafür sorgen, dass die Qualität nicht leidet.“ Maren von der Heyde mahnt: „„Digitale Medien erweisen sich als hilfreich. Aber der Mensch ist nicht digital. Sein Wesen erfassen nur Menschen; Berater*innen, die für seine Sorgen offen sind.“

Die Geschäftsführerinnen haben grünes Licht für dieses Blog gegeben, das diakonische Kompetenz nach außen vermittelt und zugleich Platz bietet, miteinander zu diskutieren.
Nutzen wir die Chance.