Archiv für den Monat: September 2020

Früher oder später

Die fast leeren Zeitungsständer schreien nach der Schlagzeile Virus killt Printmedien, überlegt der Reporter. Vor kurzem las er auf der BILD Zeitung: Wann wird es wieder wie früher? Ist früher, als nikotingebräunte Finger eine Zeitung aus dem Ständer zogen und dem Mann im Kiosk 50 Pfennig zuschoben? Oder ist früher, als Seminarteilnehmer*innen noch im Kreis zusammen saßen statt auf zwei Meter Abstand im Raum verteilt?

Das eine tun und das andere nicht lassen

Auf diese Weise trafen sich die Leiter*innen der diakonischen Beratungsstellen während ihrer Tagung Anfang September in Breklum zum Plenum. Thema: Digitalisierung. Er wurde ein offener Austausch, teils face to face, teils mit neuen digitalen Techniken. Hybride Anwendungen könnten der Renner werden. Mit der Digitalisierung hat die Pandemie etwas angestoßen, das in der Luft lag. Und die Sorge, Menschen ohne Zugang zu digitalen Medien würden abgehängt? „Es gibt keinen Zwang zur Digitalisierung, aber einen gewissen Druck. Und den machen auch Klient*innen,“ erklärt Maren von der Heyde, die Diakoniepastorin, „da ist jede Einrichtung anders gefordert.“

Flexible Menschen werden jetzt noch flexibler. Klient*innen machen sich unabhängig von Sprechstunden, Beratende arbeiten gern mal zu Hause. „Im Großraumbüro muss man fremde Telefonate mithören, Kolleginnen kommen und gehen, es gibt soziale Kontrolle. Allein zu arbeiten hat dann was,“ sagt Andrea Makies, kaufm. Geschäftsführerin. „Wir prüfen den rechtlichen Rahmen, damit mobiles Arbeiten eine Option wird.“

Offen und verantwortlich handeln

In der Viruskrise sitzen Beratende und Beratene in einem Boot. Sie müssen eigene Ängste beherrschen und zugleich mit ängstlichen Menschen umgehen. Besonders in der Anfangszeit hätten die Behörden mit strengen Auflagen und Strafandrohungen Angst verstärkt. Die Schließung des Gebäudes mit fast allen Pinneberger Beratungsangeboten wegen eines Verdachtfalls, sei in der Rückschau eine Überreaktion, erklärt die Diakoniepastorin. Zufrieden registriert sie eine wachsende Achtsamkeit. „Wir müssen Verantwortung für uns und andere übernehmen. Aber auch akzeptieren, dass es keinen hunderprozentigen Schutz gibt. Es hat keinen Sinn, nach Schuldigen zu suchen, wenn ein Virus umgeht. Bei aller Vorsicht müssen wir offen bleiben.“

Früher hieß Abstand noch Entfernung und Nähe noch nicht Gefahr, denkt der Reporter. Es wird uns einiges zugemutet. Und plötzlich spürt er zum erstenmal, was es bedeutet, einer Risikogruppe anzugehören.

Die nächsten Schritte

Im Nachhinein werde sichtbar, welche Chancen der Lockdown eröffnete. Digitale Treffen machten es leichter, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, erzählt Maren von der Heyde. Das hätte manch einer als Segen empfunden: man begegne sich sachlich, käme schneller zu Ergebnissen. Körperliche Distanz im professionellen Umfeld habe auch ihr Gutes, betont die Diakoniepastorin. Der Reporter stimmt ihr zu. Er spürt dennoch ein Unbehagen.

Vor ein paar Tagen fragte die BILD Zeitung: Wann wird es wieder wie früher? Die Sehnsucht ist so verständlich wie vergeblich. Geschichte wird gemacht, es geht voran. Am 3. und 4. September treffen sich Einrichtungsleitende in Breklum. Face to Face trotz Corona. Ist das ein Statement?

Die Suche nach dem rechten Maß

Digitalisierung sei kein Allheilmittel, sagt Frau von der Heyde. Ebenso wenig käme ein Verzicht auf Digitalisierung in Frage. Alle Einrichtungen werden eine Strategie entwickeln müssen. Das Treffen diene auch zum Austausch von Erfahrungen. So habe es sich gezeigt, wie problemlos sich Fortbildungen online organisieren lassen. Der Vorteil liege auf der Hand: Zeitgewinn, Konzentration auf das Wesentliche. Die Diakonie Hamburg-West/Südholstein werde ihr Fortbildungsangebot digital erweitern. Sicher werde es häufiger zu hybriden Veranstaltungen kommen, bei denen sich Teilnehmer*innen von Außen dazuschalten.

Im Suchthilfezentrum Lukas in Lurup zum Beispiel, gelinge es online besser, an bestimmte Klienten heranzukommen. Der Kontakt per Mail ist niedrigschwelliger als eine Anmeldung über das Büro und das Hingehen. Dem Reporter wird klar, als Fußgänger gehört er auf die Liste der gefährdeten Arten.

Raus aus der Angst

Alarmierend viele Menschen scheinen jedoch die Kommunikation einzustellen. Selbst junge Menschen verließen die Wohnung nicht, aus Furcht vor Ansteckung. Wege aus der Vereinsamung zu finden, sei auch eine diakonische Aufgabe, sagt die Diakoniepastorin. Lösungen werden gesucht. Das Projekt TAS to go  der TAS Pinneberg ist ein bemerkenswerter Ansatz. Die Diakonie macht sich auf den Weg zu den Menschen.

Das Virus unterscheidet nicht zwischen Beratenden und Beratenen. Wer soziale Arbeit verrichtet, hält sich selbst in der Regel nicht für betroffen. Jetzt stehen Einrichtungsleitungen vor dem Phänomen, dass Beratende auf Abstand bestehen und zugleich Ratsuchende fernblieben, aus Angst sich anzustecken. Verständliche Reaktionen, sagt Maren von der Heyde, sie müssten in eine neue Balance kommen. Sie sehen, wir haben uns einiges vorgenommen. Das Nicken des Reporters am anderen Ende der Leitung sieht sie nicht.