Archiv für den Monat: Juni 2020

24/06/2020 Viele Wenig sind viel

Erleben wir im Gefolge des Lockdowns einen Anstieg der Not? Die Bundesagentur für Arbeit rechnet für den Sommer mit mehr als drei Millionen Arbeitslosen. Was muss geschehen, wenn noch mehr Menschen ihre Sicherheit, ihre Ersparnisse, ihre Wohnung verlieren?

Jana Meyer, Leiterin der TAS Norderstedt, sprach von einem bevorstehenden Tsunami. Die aufgeschobenen Mietforderungen würden jetzt fällig. Viele ihrer Klient*innen seien nicht zahlungsfähig, fürchtet sie.

Strategie der kleinen Schritte

„Wir sehen manches mit Sorge,“ erklärt Maren von der Heide, Geschäftsführerin der Diakonie HHSH. „Wir brauchen jetzt unseren Sachverstand und müssen unsere Ressourcen nutzen. Gegen den Anstieg sozialer Not setzen wir auf überschaubare und stabile Projekte, die Sicherheit bieten.“

Jana Meyer hatte auch auf die Wohnungsnot in Norderstedt und anderswo hingewiesen. Es würden seit Jahren viel zu wenig bezahlbare Mietshäuser gebaut. Hier trägt die Strategie, die Zeichen setzt und konkret Hilfe leistet, bereits  Früchte. Die Geschäftsstelle ist längerem dabei, Bauprojekte zu entwickeln. Erste Erfahrungen sammelte sie mit  dem Wohnhaus für Frauen, die mit ihren Kindern aus dem Frauenhaus ausziehen wollen. Es ist bald bezugsfertig.

„Dieses Projekt ermutigt uns, an die Wurzeln der Wohnungsnot zu gehen. Wir sind bereit, Verantwortung zu tragen,“erklärt Maren von der Heyde. Bisher kooperiert die Diakonie erfogreich mit dem Bauträger bauwerk im Kirchenkreis. Weitere Partner werden noch gesucht.

Hand in Hand mit dem NDR

Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) hält die Diakonie offenbar für fähig, soziale Phantasie und Tatkraft zu organisieren. Nach nur zwei Jahren wird der öffentlich-rechtliche Sender wieder mit Diakonie und Caritas zusammen die Spendenaktion „Hand in Hand“ organisieren.

„Klasse“, finden das die beiden Leiterinnen der Geschäftsstelle. „Wir werden schon am Freitag mit den Leitungskräften unserer Einrichtungen konferieren und die Kolleg*innen bitten, Ideen zu entwickeln,“ kündigt Andrea Makies, die kaufm. Geschäftsführerin, an.

Der Tsunami, von dem wir sprechen, ist ja keine Naturkatastrophe, denkt der Reporter auf dem Weg ins Büro und deklamiert: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch,“ als plötzlich der Bürgersteg vibriert. Unter dem Asphalt rauscht die S-Bahn durch den Citytunnel.

18/06/2020 Nach dem Virus der Tsunami

Gemeinsam gegen das Virus. Geradezu verzweifelt wird in den letzten Wochen der Kitt der Gesellschaft beschworen. Ein Mantra gegen die Angst, denkt der Reporter. Etwas springt aus der Reihe. Wie die Fahrgäste der S-Bahn, die hektisch aufstehen, in sich gekehrt, wortlos einen freien Platz suchen, weil ihnen vermeintlich jemand zu nahe kam.

Ruhe vor dem Sturm

Das spürt der Reporter plötzlich, als er Jana Mever zuhört. Mit gerade mal 32 Jahren ist sie eine der energiegeladenen jungen Leitungskräfte der Diakonie Hamburg-West/Südholstein. Wie gut die Neuen den Einrichtungen tun. Der Reporter sagt damit nichts gegen die Alten, die fast alle jünger sind als er. Wer früh Verantwortung tragen darf, gibt das Vertrauen doppelt zurück. Wenn das die Rechnung ist, scheint sie aufzugehen.

Die Leiterin der Tagesaufenthaltsstätte für Wohnungslose in Norderstedt erzählt von den Improvisationen, die nötig waren, um den Kontakt zu den Notleidenden nicht abreißen zu lassen. Aus dem Kellerfenster heraus habe man warme Mahlzeiten verteilt. Und dann sagt sie: „Ich erwarte so etwas wie einen Tsunami. Eine Welle von Bedürftigkeit. Wir beobachten gerade, was es bedeutet, wenn eine Sicherheit nach der anderen zerbricht.“ Vielen ginge es jetzt so. Wer kurzarbeiten muss, dem gehe die Puste aus. Die Kosten laufen weiter. Auch die Miete für die Wohnung, die während des Shutdowns gestundet wurde. Das summiert sich jetzt.

Leben am Abgrund

Der Wohnungsmarkt in Norderstedt sei schon lange leergefegt, jetzt werde es auch auf dem Arbeitsmarkt eng. Für viele werde die Kurzarbeit der Vorgeschmack auf den Stellenverlust, vermutet die Sozialberaterin. Das gehöre zu den schwer abzuschätzenden Virus-Folgen.  Arbeit und Wohnungen hat sie nicht im Angebot. Aber guten Rat, also mehr als warme  Worte. „Wenn die Betroffenen früh genug kommen, können wir oft noch das Schlimmste abwenden. Wir sind hier in der Stadt gut vernetzt.“

Gefragt, was unbedingt noch ins Blog gehört, wünscht sich Jana Meyer ein Lob Ihres Teams: „Wie alle mitgezogen haben, das war klasse.“ Das ist doch ein versöhnliches Ende, denkt der Reporter beim Abschied. Irgendwie beunruhigt macht er sich auf den Weg in sein Büro.

15/06/2020 Hinterher schlauer sein

Eine Pandemie wirft die Regeln des Miteinanders über den Haufen. Auf Abstand gehen lautet das Gebot der Stunde. Man könne gar nicht vorsichtig genug sein, heißt es. Denn das Virus ist klein und gemein. „Es gab Mitarbeiter, die sofort abgeschirmt von Klienten arbeiten wollten, am liebsten im Home Office. Und es gab Mitarbeiter, die sich für unantastbar hielten, da musste ich bremsen, damit sie sich nicht gefährdeten,“ erinnert sich der Leiter einer Einrichtung.

Wir müssen mit dem Virus leben

Hinterher sei man schlauer. Sagt der Volksmund. Das Volk hat Angst, denkt der Reporter und nimmt sich vor, herauszufinden, was da Angst macht. Nur das Begreifen des Geschehenen macht schlauer. Denn das Virus ist in der Welt. Nach der Pandemie ist vor der Pandemie.

Wer rechnete im Februar mit einem so langen Aussetzen des gesellschaftlichen Lebens? Als
Ostern keine Entwarnung kam, wuchs die Hoffnung, Pfingsten könnte die Erlösung bringen. Aber noch immer lauert das Virus. Also gilt die Maskenpflicht. Vorsicht ist geboten. „Unsere Berater*innen waren immer mit den Menschen in Kontakt,“ betont Andrea Makies, kaufm. Geschäftsführerin. Wo immer es möglich war, hätten die Berater*innen direkte, persönliche Kontakte aufrechterhalten, z. B. in den Kitas und in der Wohnungslosenhilfe. „Wir sind aus Fürsorge vorsichtig, nicht aus Angst. Ich möchte manchmal schneller sein. Aber das ist ein Prozess, in dem wir alle mitnehmen.“

Aus Erfahrungen lernen

Oft sind die Maßnahmen gegen die Pandemie als Experiment beschrieben worden. Auch die Diakonie muss daraus lernen, so wie die gesamte Gesellschaft. Fest steht jedenfalls: In Krisen wie dieser sind nicht nur Virologen gefragt. Sondern auch Soziologen und andere Disziplinen. Vor allem aber braucht es Seelsorger im weitesten Sinne. „Ob in der Beratung für Migrant*innen oder für Suchtkranke oder in der Gemeindediakonie: Wir sehen in der diakonischen Arbeit den ganzen Menschen. Uns sind z. B. Kontaktsperren schwer gefallen. Darüber können wir offen und selbstbewusst sprechen“, erklärt Diakoniepastorin Maren von der Heyde.

Andrea Makies ergänzt: „Wir werten unsere Erfahrungen aus, die wir mit telefonischer Beratung, mit Anleitungsvideos oder Video-Konferenzen gemacht haben. Richtig genutzt, erweitern moderne Medien unser Spektrum und helfen uns mit Menschen in Kontakt zu kommen, die bisher noch nicht den Weg zu uns gefunden haben.“

Krisen eröffnen Chancen. Die Diakonie nutzt sie, indem sie Öffentlichkeit herstellt. Mitarbeiter, Klienten, Interessierte sind aufgerufen mitzureden. Jede Woche hier im Blog Niemals ratlos.

08/06/2020 Öfter online auf Draht

Ein Termin platzt. Auf die Schnelle muss ein neues Thema her. Der Reporter hat zum Glück ein paar Adressen: „Sonst gern, aber wir bereiten gerade ein Audit vor“, erklärt Karen Schueler-Albrecht. Und dann, mit dem Gespür der erfahrenen Beraterin: „Wann können Sie hier sein?“ Eine Stunde später klingelt der Reporter an der Tür des Pinneberger Katharina-von-Bora-Hauses.

Die Leiterin des Diakonievereins Migration lässt dem Reporter einen Spalt offen. Verbindlich, aber unerbittlich heißt es für die wartende Familie: „Holen Sie sich bitte einen Termin.“ „Unglücklich“, findet Frau Schueler-Albrecht das, gelinde gesagt. „Wir sind ja für die Leute da.“

Beratung wird flexibler

Corona hat zumindest das Interesse an Sprachkursen nicht geschmälert. „Wir suchen jetzt größere Räume, wegen des Abstandsgebots.“ Hat das Virus auch positive Folgen? Da muss sie nicht lange überlegen. Die Skepsis gegenüber der virtuellen Konferenz sei groß gewesen. Manche Sitzung, die nicht an einen Standort gebunden sei, könne jedoch gut online laufen. Im Flächenland Schleswig Holstein kommt da einiges an gesparter Zeit zusammen. Auch das Home Office habe sich für Mitarbeiter*innen bewährt. „Wir überlegen, die Arbeit so zu strukturieren, dass ein Tag in der Woche zu Hause gearbeitet werden kann. Niemand muss ins Büro, um Statistiken zu erstellen.“

Und noch eines sei überraschend gewesen. „Es ist jetzt so ruhig hier.“ Nein, sie meint nicht das, was dem Reporter einfällt: „Die Leute stören hier nicht. Seit dem Wegfall wird deutlich, wie anstrengend die offenen Sprechstunden waren. Für die Ratsuchenden, die lange in den Fluren warten mussten und für die Berater*innen, die sich von den ungeduldig Wartenden gedrängt fühlten. „Termine sind persönlicher, entspannter und effektiver. Die Beratung muss niedrigschwellig sein, aber vielleicht finden wir neue Formen.“

Der Spalt vertieft sich

Dann wird das Gespräch doch noch nachdenklich. „Wir haben unsere Berater*innen aus den Flüchtlingsunterkünften abgezogen. Die Enge dort erhöht die Ansteckungsgefahr. Telefonisch haben wir Kontakt gehalten, so gut es ging.“ Das ist ein Trend in diesen Tagen: Wer kein Smartphone hat, wer nicht telefonieren kann, weil er oder sie sich nicht traut, kommt ins Hintertreffen. Die Teilung der Gesellschaft vertieft sich, wenn niemand gegensteuert. „Wer soll die Wohnungen bezahlen, die gebraucht werden?“. Die Expertin ist zum ersten Mal ratlos. Dem Reporter fallen die vielen Milliarden ein, die jetzt zu Hilfspaketen geschnürt werden.

Das war effektiv, denkt der Reporter in der S-Bahn nach Hamburg und hackt die ersten Sätze ins Laptop.

Entladen des Tafel-Lieferwagens Foto:S. Moes

Helfer in der Not

Fast einhundert prall gepackte Taschen mit Lebensmitteln haben die ehrenamtlichen Helfer*innen aus dem Lieferwagen der Hamburger Tafel geholt und vor dem Gemeindehaus der St. Michaels Kirche in Iserbrook aufgereiht.

Jetzt nehmen sie noch einen Kaffee. „Ich tue hier etwas für die alten Leute im Viertel,“ erklärt Margret. Sie hat Kuchen mitgebracht und verrät ungefragt, sie sei 93 Jahre alt. Voll die Risikogruppe: gut, dass sie allein lebt und selbst entscheidet, wohin sie darf. „Margret organisiert alles für unser Wohlbefinden“, erzählt Lisa. Sie ist vorzeitig in Rente. „Ich bin auf die Tafel angewiesen, nicht nur wegen der Lebensmittel.“ Normalerweise hilft die 60-Jährige, einen Stand mit dem Angebot der Tafel aufzubauen. Lisa erzählt, wie sie beim Verteilen der Lebensmittel bedürftige Menschen ansprechen, aus der Einsamkeit locken und mit ihnen feiern.

Geht´s gut. Ja, es geht gut.

Jetzt stehen die Wartenden über das Kirchengrundstück verteilt, vereinzelt, auf Abstand.  Jede bekommt eine Tüte. „Nein, nicht zwei, nur eine“, erklärt Annette, die seit 13 Jahren beim Essenverteilen mitmacht. Sie stellt eine Tüte auf einen Tisch, tritt zwei Meter zurück, die Bedürftige geht nach vorn und holt sie sich. „Geht´s dir gut“, ruft Annette. Ja, es geht gut.

Ein Mann hat keine Maske dabei. Annette will wissen, ob er mit dem Bus gekommen ist. Er führt einige kurze Schritte vor. „Aha, zu Fuß“, sagt Annette. Seit fünf Jahren lebe er mit seiner Familie in Hamburg, erfährt der Reporter. „Der junge Mann kümmert sich rührend um seine Kinder“, weiß Margret.

Sprachlose Armut

Vor kurzem begleitete der Reporter Helferinnen der Obdachlosentagesstätte MAhL ZEIT in Altona, die auf Weisung der Stadt geschlossen ist. Ihre Gäste fanden sie auf den Treppen am Altonaer Bahnhof. Polizeibeamte schritten ein, wenn sie sich zu nahe kamen. Auch dort viel Dankbarkeit über Tüten mit dem Lebensnotwendigsten. Menschen brauchen nicht viel, dachte der Reporter. Aber wer sich über bescheidene Gaben so ausgiebig freut, hat sich wahrscheinlich aufgegeben. Und was erzählt ein fürsorglicher Vater seinen Kindern, wenn er in der Unterkunft die Konserven auspackt, über die Stadt, in der er lebt, ohne Deutsch zu sprechen? Die Maßnahmen gegen das Virus machen augenfällig, was es bedeutet, arm zu sein. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, fällt ihm Bertolt Brecht ein. Ratlos schwingt sich der Reporter aufs Rad. „Abstand ist die neue Nähe“, liest er auf einem Plakat. Könnte von mir sein, denkt er und tritt in die Pedale.