Archiv für den Monat: Mai 2020

Nicht nur überleben

Als vor acht Wochen Tischler ein Regal im Haus der Kirche in Hamburg Niendorf ausliefern
wollten, begriffen sie plötzlich, wie sehr die Maßnahmen gegen das Corona-Virus ihren Alltag verändern würden. Das Gebäude war für Besucher geschlossen. Drinnen wienerten, putzten und wischten Frauen Klinken, Tische und Abstellflächen. Eine seltsame Atmosphäre… bis sich
eine Mitarbeiterin ein Herz fasste: sie ließ die Handwerker das Regal aufstellen.

Andrea Makies, Geschäftsführerin der Diakonie Hamburg-West/Südholstein, findet genug
Argumente es so zu machen. Wichtiger sei jedoch, dass in den Einrichtungen offen
gesprochen werden kann. „Wir lernen während wir entscheiden. Den offenen Blick müssen
wir uns erhalten.“

Denken vom Worst Case her

Denn das gesellschaftliche Klima ist rauher geworden. „Verschwörungstheoretiker“ gewinnen Anhänger. Zu solchen werden auch Menschen gestempelt, die „in Zeiten des Virus“ weiterhin kritisch denken. Die Journalistin Jana Simon portraitiert in der aktuellen Ausgabe des Zeitmagazins eine angesehene Virologin. Unbefangen sprach sie im Radio aus, was in der Forschung keine Außenseiterposition ist: das Corona-Virus sei „kein Killer“. Es sei nicht nötig, Kitas und Schulen zu schließen und sogar Kinderspielplätze zu sperren. Ein gewaltiger „Shitstorm“ in den sozialen Medien war die Folge. Das Radio distanzierte sich von ihr.

Die Maßnahmen orientieren sich am Worst Case. Ausschließen, isolieren. Viele wagten nicht, ihre Angehörigen zu besuchen. Vor Supermärkten, in Buchläden: Überall werden wir zur Desinfektion angehalten. Fast überall sollen wir tragen, oft auch Handschuhe. Viele zweifeln. Und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.

Herausgeforderte Kirche

Beraterinnen und Berater sollten „zeigen, dass wir ein Netz der Nächstenliebe wirklich knüpfen können.“ So zog Diakonie-Präsidenten Ulrich Lilie die Linie, an der sich Beratung orientieren muss. Der Umgang mit den Schwachen sei für die Kirche entscheidend, betonten die Bischöfe der Nordkirche. „Möglicherweise wird hier bereits die Kirche von morgen sichtbar, die sich ohnehin in neuen Formen vollzieht. Eine Kirche, die existenziell herausgefordert ist durch gesellschaftlichen Wandel.“

So wie die Diakonie lernte auch die Kirche. Blieben Ostern die Kirchen zu, probieren Gemeinden zu Pfingsten einen kreativen Umgang mit der Krise: „Gottesdienst im Garten des Pastorats. Die aktuellen Regeln bezüglich des Corona-Virus sind einzuhalten.“ Das könnte es sein: Die Regeln so anwenden, dass sie Leben ermöglichen.

 

Beratung gegen die Angst

Science Fiction? Regionale Krisengebiete. Eingeschränkte Persönlichkeitsrechte, digitale
Kontrolle des Lebenswandels, Quarantäne beim Verdacht auf Infizierung. Menschen, die
möglichst kontaktarm leben. Das könnte Alltag werden. Die nächsten Corona-Wellen werden kommen, prophezeien die Virologen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Maßnahmen ihrer Regierung als „demokratische
Zumutung“ bezeichnet. Jetzt werden Lockerungen diskutiert. Und für die Westdeutschen könnte die Rückkehr zur Normalität den größten Einschnitt seit 1948 markieren (1990 veränderte die westdeutsche Gesellschaft nicht einschneidend, zumindest nicht „gefühlt“). Damals, mit der Währungsreform, begann der ökonomische Aufstieg Deutschlands. Was kommt jetzt? Wer verliert sein Geschäft? Wer wird arbeitslos? Wieviele Partnerschaften sind zerbrochen, wieviele Lebenswege geknickt?

Fragen bleiben offen

Am Anfang forderte die Pandemie-Abwehr Zeit und Energie. Unter Druck musste gehandelt werden. Orientierte sich die Diakonie zu Recht streng an den Gesetzen? Gab es keine
Alternative? Immer noch ist es schwer, den richtigen Ton zu treffen. In Deutschland starben fast 8.000 Menschen durch das Virus. Es herrschte Angst.

Andrea Makies, Geschäftsführerin der Diakonie Hamburg-West/Südholstein, erinnerte zu Beginn: „Diakonie heißt, trotz eigener Ängste für andere da zu sein.“ Viele haben ihre alten und kranken Angehörigen zwei Monate lang allein gelassen – eine leidvolle Entscheidung. Wie thematisieren wir Angst? Wieviel Online-Kommunikation verträgt der Mensch? Ist es wünschenswert „kontaktarm“ zu leben? Das könnten Fragen an die Beratungspraxis sein.

Andrea Makies erlebte, wie lebensbedrohlich das Virus ist. Eine Freundin landete mit schwerem Verlauf im Krankenhaus. Und doch: die weitaus meisten Erkrankten kamen mit relativ leichten Symptomen davon. Wie verhindern Berater*innen Verharmlosungen, wie vermeiden sie falschen Alarm?

Unabsehbare Folgen

Die vielen Todesfälle in den USA zeigen, was das Virus anrichtet in einer Gesellschaft, die sozial auseinander fällt. Das soziale Netz in Deutschland ist weit von diesen Zuständen entfernt. Das müsse so bleiben, sagt Andrea Makies: „Der politisch gewollte Wettbewerb im sozialen Bereich darf nicht zu Lasten der Qualität gehen. Wir setzen uns dafür ein, dass alle Menschen versorgt werden.“

Noch sind die sozialen und ökonomischen Folgen der Pandemie nicht absehbar. Es geht um den Erhalt des Sozialstaats. Es geht letztendlich um die Frage: wie wollen wir leben? Gute Beratung muss Antworten finden.

Fortgesetzte Ausgrenzung

Nachgefragt in der Stadteildiakonie Sülldorf/Iserbrook, wo Susanne Alms de Ocana vom home office aus berät. Klient*innen, die telefonisch nicht gleich durchkommen, finden – wenn es z. B. um Fragen zu Anträgen geht – professionelle Hilfe. Das Netz der Beratungsstellen bewährt sich in der Krise. „Ich habe viele Menschen beraten, die durchs Internet auf mich gekommen sind.“

Wer nicht gewohnt ist, Dokumente einzuscannen, fällt natürlich raus. Aber auch denen konnte sie weiterhelfen: freitags an der frischen Luft, wenn hier Lebensmittel ausgegeben werden. „Eines dürfen wir nicht unterschätzen: die Leute fragen in ihren Kreisen nach und finden, was sie brauchen.“

Online-Schule schließt arme Kinder aus

Allerdings zeige sich bei der Lebensmittelausgabe das Ausmaß der Verarmung in der Stadt. Nun grenze die Digitalisierung des Schulunterrichtes die Kinder der Armen aus. Vergeblich bemühte sich die Beraterin um Geld für einen Computer für eine Schülerin, deren Unterricht auch künftig zum Teil online organisiert wird. Das Sozialamt verwies an die Schule. Doch die verfügt über keine Mittel. „Man hat die von Sozialhilfe lebenden Familien einfach vergessen. Unfassbar.“

Unfassbar auch, weil die Pandemie zeigt, wie wichtig die sozialstaatliche Absicherung gegen Armut und Krankheit ist. Schlechte Ernährung, auszehrende Arbeitsverhältnisse, das erzwungene Leben auf engstem Raum von Menschen, die mit ihrem Arbeitseinkommen keine Wohnung finanzieren können, auch Obdachlosigkeit: solche Faktoren erhöhen das Risiko, dem Virus zum Opfer zu fallen. Das zeigte sich in den USA, aber auch in Deutschland, wo die prekären Arbeitsverhältnisse in Schlachthöfen zu Infektionen führten.

Auch in Viruszeiten: den Menschen nah

Nach acht Wochen werden Lockerungen diskutiert. Die Beraterin will selbst entscheiden, wann sie aus dem home office in die Beratungsstelle zurückkommt. Viele Ratsuchende gehörten zur Risikogruppe. Solange es keine Tests gebe, gehe Vorsicht vor. Das Bedürfnis ihrer Ehrenamtlichen, bald wieder aktiv die diakonische Tätigkeit aufnehmen zu wollen, kann die Sozialpädagogin gut nachvollziehen. „Ich bin für diese Mitarbeiter*innen verantwortlich. Ich werde sie deshalb schützen. Wir treffen uns in einem großen Raum, bleiben auf Abstand.“

Erstes Resumee: das Telefon habe sich bewährt. „Ich habe gerade anfangs, als die Unsicherheit so groß war, viele Gespräche mit ängstlichen Menschen geführt. Das ging gut, da entstanden Kontakte, da war ich nahe an den Menschen.“

Ohne Vision keine Spenden

Noch sind die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie nicht absehbar. Viele Spender*innen verhielten sich deshalb abwartend, weiß Gunnar Urbach, Senior-Fundraiser des Ev.-Luth. Kirchenkreises Hamburg-West/Südholstein. Umso mehr müssten die Verantwortlichen in den Einrichtungen des Diakonischen Werks jetzt den persönlichen Kontakt zu den Spender*innen pflegen. Sie brauchen ungeschönte, offene Informationen „aus erster Hand“. Denn wer spendet, habe ein Recht zu erfahren, wie es der geförderten Organisation in der aktuellen Situation geht. „Die Kommunikation mit den Spender*innen ist das A und O.“

Das Menschliche hervorheben

Den Ausschlag geben aber nicht die nackten Faken, erklärt der Pastor. Wichtig sei es, die Chancen für die Menschen heraus zu stellen. Die „Kirchenkaten“ einer Norderstedter Kirchengemeinde für Menschen in Altersarmut überzeugten, weil den Spender*innen vermittelt wurde, wie viele neue Lebensmöglichkeiten die wenigen Quadratmeter eröffneten. Bis hin zu der Möglichkeit, sich ein Treffen mit einer Freundin in einem Café leisten zu können. Beim Norderstedter Frauenhaus gelang es, den Geldgeber*innen klar zu machen, wie Frauen langfristig den Ausweg aus der Gewaltspirale schaffen können.

Nachhaltig für Spenden sorgen

„Je größer die Spende, desto größer der Wunsch, nachhaltig Wirkung zu erzielen.“ Wer Geld gebe, wolle etwas Positives erreichen und sehe sich keineswegs als Lückenbüßer. Viele Spender*innen sehen sich als Investor*innen und schauen vor allem auf die soziale Rendite. „Wir müssen umdenken, es reicht nicht, ein Loch in der Kasse mit Spenden flicken zu wollen. Wer Spenden einwerben will, braucht eine Vision, sagt der erfahrene Fundraiser: „Wir haben etwas vor, das die Welt besser machen wird. Wenn man mit solch einem positiven, überzeugend gestalteten Prospekt auf Geldgeber*innen zugeht, kann das schon die halbe Miete sein.“

 

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Stefan Moes     Schreibtischler      moes@hamburg.de

Die Armut abschaffen

Darf man Spenden annehmen und trotzdem seinen Ärger über die Abhängigkeit von Geschenken formulieren? Würde eine kritische Äußerung Spender von ihrem notwendigen Tun abbringen? Susanne Alms de Ocana fragt sich das während des Gesprächs über ihre Arbeit im Schatten des Corona-Virus. Ihr ist anzumerken, wie es in ihr arbeitet.

Normalerweise findet sie der Besucher im Büro der Stadtteildiakonie Sülldorf/Iserbrook auf dem Gelände der Kirche. Dort hängt jetzt der Hinweis: bitte rufen Sie an. Die Menschen machen davon Gebrauch. Fast pausenlos telefoniert die Diakonin im Home Office.

Klima der Angst

Bei allem, was man tut oder nicht, spielt in diesen Zeiten Angst eine Rolle. Niemand möchte andere Menschen mit der Grippe anstecken. Wer sich schützt, zeigt damit zugleich seine Verantwortung für andere. Wenn die Bedürftigen freitags zur Essensausgabe kommen, freut sich Frau Alms de Ocana, dass es immer mehr werden. Anfangs kamen 20, am Freitag letzter Woche rund 100. Schön, dass sie sich vor die Tür begeben, raus aus der Isolation, denkt sie. Sie weist auf die Markierungen auf dem Boden hin. Aber das ist überflüssig, merkt sie schnell. Die Menschen raben die Regeln verinnerlicht. Und dann freut sie sich, wenn alle schnell wieder gehen.

Im allgemein von Angst bestimmten Klima ist es schon mutig, wenn ein Lehrer („ich habe jetzt Zeit genug“) für eine an der Corona-Grippe erkrankte Mutter mit vier Kindern einkauft. Die Kranken dürfen nicht raus. Sie leiden. Mehr unter der Quarantäne als unter den Symptomen, die zum Glück mild bleiben.

Corona zeigt Ausmaß der Armut

Frau Alms de Ocana erzählt, was es heißt, vom Regelsatz der Sozialhilfe zu leben. Wer davon ausgeht, wie die Beamten, die den Bedarf berechnen, dass man für zwei Euro ein Mittagessen kochen kann, hat schon lange nicht mehr eingekauft. jetzt, wo Schulküchen und Tafeln geschlossen bleiben, geht alles für Mahlzeiten drauf.

Eine Schülerin braucht einen Computer. Dafür gibt ihr das Amt 150 Euro. Kein Händler gibt ihr dafür einen Rechner. Ein Drucker (die Schule lässt die Kinder nichts drucken) und Druckerpatonen fehlten dann noch. „Jetzt wird das Ausmaß der Armut deutlich. Ich finde es unerträglich, wie sich der Staat zurückzieht,“ sagt die Beraterin. Der gute Wille der Spender werde missbraucht. Und die Beschenkten schämten sich für ihre Abhängigkeit von den Wohlhabenden. Der Staat muss seine Verantwortung erkennen, was da in ihr arbeitet, ist ihre Ungeduld: Zeit, etwas gegen die Armut zu tun.