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Der menschliche Faktor

„… leider kann ich Ihren Anruf nicht persönlich entgegen nehmen. Bitte sprechen Sie auf die Mailbox.“ Ich bereite mein Sprüchlein für die Beraterin vor, da höre ich: „die Mailbox ist voll.“ Ich schicke eine E-Mail. Das geht schnell. Langwierig ist das Warten auf Antwort. Abstimmungen sind umständlich. Das ist jetzt Alltag in den Beratungsstellen, ein nervenzerrender Alltag.

Thomas Karrasch, er leitet die Ev. Beratungsstelle für Familien Sicher im Leben, ruft aus Norderstedt an. Er schildert den Aufwand, den die Berater*innen mit der Umstellung haben. Die Ratsuchenden in der Erziehungsberatung springen aber nicht ab, weil sie jetzt keine persönlichen Termine bekommen. Alle wüssten, das geht vorbei.

„Die Fallbesprechungen sind jetzt schwieriger. Wir arbeiten normalerweise im Team sehr eng zusammen, haben viel Austausch,“ erklärt Herr Karrasch. Er hofft, dass schon bald Videokonferenzen möglich sind.

„In den Gesprächen mit Klienten*innen ist Corona immer Thema“, erfährt Bettina Seiler von ihren Mitarbeiter*innen. Sie leitet die Pinneberger Erziehungsberatungsstelle. Die Ratsuchenden erzählen von ihrer Angst, sei es vor einer Ansteckung, sei es vor wirtschaftlichen Problemen oder generell vor der Zukunft. Vor allem die Kinder litten unter der sozialen Isolation, sie vermissten ihre Freunde sehr und würden gern wieder in die Schule gehen.

So ein Tag am Telefon strengt an. Das Miteinander im Büro bietet auch mal Gelegenheit zum kurzen Plausch. Im Digitalen geht der menschliche Faktor verloren. Und das ist keine Kleinigkeit. Ich denke an die vielen Interviews, die erst nach dem Abschalten der Kamera interessant wurden. Erst im Gefühl, vertraut und unbeobachtet zu sein, gaben Gesprächspartner ihrem Herzen einen Stoß und erzählten frei von der Leber. Wohin sollen sie jetzt damit?

Dann bittet die Beraterin mit der übergelaufenen Mail Box um Entschuldigung. Sie habe den ganzen Vormittag über telefoniert. Was sonst? Es sei ihr verziehen.

MAhLZEIT macht Platte

Heute will ich Marion Laux treffen. Sie leitet die Tagesstätte MAhLZEIT in Hamburg Altona, die täglich bis zu 160 obdachlosen Gästen ein Dach über dem Kopf und noch vieles mehr bietet. Die Tür ist zu. Die Behörden veranlassten die Schließung, weil hier wie in anderen Einrichtungen das Abstandsgebot nicht eingehalten wurde.

Verrückt, denke ich, wo mögen die Leute sein? Da öffnet sich die Tür und die Chefin des Hauses kommt heraus. Sie will mit Sabine, einer ehrenamtlichen Helferin, zum Altonaer Bahnhof. Sie weiß, dort trifft sie viele ihrer Gäste. Es ist schon ihre zweite Runde. Ich darf mit. Der Kleinbus ist vollgeladen mit Plastiktüten. Darin Dinge, die auf der Straße wichtig sind.

Unterwegs schnell die Fakten. Die aufsuchende Arbeit ist anstrengend und aufwendig. Eine gute Nachricht: Die Spenden nehmen nicht ab. Ein schwedisches Möbelhaus (der Tischler in mir zögert, es zu erwähnen) spendete Handtücher und Thermobecher. Auch Geld werde zum Glück gespendet. Kleider nehmen die Helfer nicht mehr so gern an. „Die Leute misten jetzt aus. Die haben ja Zeit. Das verkraften wir nicht,“ sagt Frau Laux.

Am Bahnhof wachen zwei Polizisten darüber, dass die Obdachlosen nicht zu eng zusammen sitzen. Gereizte Stimmung. Als wir mit den Tüten kommen (Stullen, Socken, Seife etc.) begrüßen uns die Männer herzlich. Sie freuen sich wie Kinder zu Weihnachten. Einer sagt mir: „Wir haben keinen Ort mehr, an dem wir bleiben können. Ich habe Angst, dass uns die Gesellschaft im Stich lässt.“ Irgendetwas macht ihn, wie so viele, unruhig, wenn er an die Nach-Corona-Zeit denkt.

Diese Arbeit lässt sich nicht ins Netz verlegen. Und doch ist die Aktion nur ein schwacher Ersatz für die Tagesstätte. „Viele tauchen jetzt ab. Wahrscheinlich ins Elend,“ sagt die Frau, die hier alle Marion nennen. Zwei Männer, die jetzt ihre Tüten auspacken, sind volltrunken. „Die waren auf einem guten Weg, jetzt versacken sie. Allein kommen sie da nicht raus.“ Hier wird tatsächlich spürbar, dass es für direkte Kontakte von Mensch zu Mensch keine Alternative gibt, denke ich: Wie lange halten die Helfer die Belastung noch aus? „So lange es sein muss. Nützt ja nix.“

 

 

Stefan Moes     www.moebel-und-texte.de

Telefonberatung. Ein Selbstversuch

Am liebsten suche ich Gesprächspartner persönlich auf (vgl. 14. 4. 2020). Jetzt rufe ich Nils Baudisch an. Er ist Diakon und leitet die Flüchtlings- und Migrationsarbeit Norderstedt. Das Wichtigste schickt er vorweg. „Beratung braucht Vertrauen. Und Vertrauen entsteht in der Begegnung.“ Die sei naturgemäß eingeschränkt, so am Telefon. Diejenigen, die anrufen, nehmen die Einschränkungen aber hin. Beschwerden gebe es nicht. „Wir improvisieren,“ erklärt Nils Baudisch. „Das sind keine Dauerlösungen.“

Der Einrichtungsleiter hat Erfahrungen mit Beratung am Telefon. Er war Telefonseelsorger. Auch ohne direkten Sichtkontakt habe die Beraterin die Chance, einem Menschen nahe zu kommen und zu registrieren, was nicht direkt ausgesprochen wird. „An der Stimme lassen sich Stimmungen ablesen. Zögern, die Festigkeit, die Lautstärke verraten viel über die Gemütsverfassung eines Menschen.“

Erfreut registrierte ich: er klang zugewandt wie immer und schien die Feiertage zum Ausruhen genutzt zu haben. Doch wenn es kompliziert werde, sei die Telefonberatung unbefriedigend. Vor allem in Beratungsgesprächen mit Menschen aus aller Welt fehlten Gestik und Mimik sehr. Die Beratungsgespräche dauern viel länger. Die relevanten Unterlagen müssen digital zugestellt werden. Dazu muss vorher geklärt werden, was für die Beratung gebraucht wird. Man staune, wie viele Papiere man in Deutschland innerhalb weniger Wochen ansammelt. Das erfordert Geduld auf beiden Seiten. Am Ende blieben Zweifel, ob man sich richtig verstanden hat.

Die Mitarbeiter*innen in den Unterkünften sind weiterhin – mit den notwendigen Schutzvorkehrungen –  persönlich ansprechbar. „Die Menschen dort teilen sich Küchen und Bäder. Sie leben relativ nahe beieinander. Da ist es wichtig direkt an Ort und Stelle zu sein. Nicht einmal weil es mehr Konflikte gäbe, sondern um ihnen zu zeigen: Wir halten zu euch.“

Gut gelaunt schreibe ich meinen Text, schicke ihn zur Freigabe. Die Antwort haut mich um. „So will ich ihn nicht veröffentlicht wissen. (…). Ich versuche es heute nachmittag noch mal.“ So barsch kannte ich ihn nicht. Gespannt wartete ich auf den Anruf. Da wurde schnell klar, er war am Arbeitstitel hängengeblieben: Auf Abstand. Gut, dass wir darüber sprechen konnten.

Die Krise als Chance

Wir hatten uns mehr als 20 Jahre nicht gesehen. Damals arbeitete Melanie Kirschstein wie der Redakteur dieses Blogs* beim NDR Fernsehen. Wir realisierten Filmbeiträge für das Ressort Reportage im Hamburg Journal. Sehr schlank, schiebt sie auf dem Bürgersteig ein stabiles Rad. Die Haare kurz. Wie damals, als wir schon nicht mehr die Jüngsten waren, aber entscheidende Jahre unseres Lebens noch vor uns lagen.

In einem Ottensener Hinterhof tranken wir mitgebrachten Kaffee. Wir taten etwas, was sich viele Menschen seit fast vier Wochen nicht mehr trauen: Wir führten ein direktes Gespräch.

Zurückschauend entdeckten wir Gemeinsamkeiten. Sie und ihre Familie nahmen einen somalischen Jungen auf, halfen ihm beim Schulabschluss. Meine Frau und ich haben einen jungen Mann aus Eritrea bei uns. In beiden Fällen überwiegen gute Erfahrungen, die uns jedoch in unserer Skepsis bestärken, was die Lebensperspektiven der meisten Flüchtlinge angeht. Der Erfolg erfordert intensive Unterstützung, viel mehr als in der Regel möglich ist. Jetzt fragten wir uns, wie wirken sich die neuen Bedingungen auf die Flüchtlingsberatung aus?

Eines unserer Motive als Reporter war das Interesse an Menschen. Wir recherchierten nicht nur im Internet, sondern fanden unsere Protagonisten in ihrer Alltagswelt. Vor den Dreharbeiten machten wir uns ein Bild. Denn nur so konnten wir über Dinge berichten, die nicht offensichtlich waren. Als die Filme immer kürzer wurden, machte es für Melanie Kirschstein keinen Sinn mehr. Sie wurde Pastorin. Wenn sie über 18 Jahre in der Gemeinde erzählt, sehe ich ihr die Begeisterung an.

Handelt die Diakonie professionell, wenn sie Beratung per Telefon organisiert?, frage ich die ehemalige Kollegin. Eine Schuldnerberatung oder die Hilfe bei einer Antragstellung hält sie ohne Verluste für möglich. Aber Melanie Kirschstein berät und unterstützt meist Menschen in tiefen seelischen Krisen. „Ich gebe Raum für Leib und Seele“, sagt sie. „Körperhaltung und Mimik, alles fliesst ein in die Wahrnehmung. Schweigen und beten geht am Telefon nicht so gut.“

Beeindruckt gab sie wieder, was ihr ein ehrenamtlicher Mitarbeiter einer Seelsorge-Hotline erzählt hatte. Nie zuvor habe er so deutlich das Elend wahrgenommen, das erzwungene Einsamkeit bedeuten kann. Manche weinten, fühlten sich verlassen, andere waren wütend. Erinnerungen an die Kriegsjahre kamen hoch. Aber im Laufe des Gesprächs auch Hoffnung und Vertrauen. Krisen fördern zutage, was unsere Entfaltung hemmt. Das versteckt sich hinter der Botschaft „Krise als Chance“!

 

* Redakteur ist Stefan Moes, Schreibtischler, Tel. 0171 834 89 64. Im fünften Jahr unterstützt er die Kampagne Diakonie. Gut beraten. www.diakoniegutberaten,de. Verantwortlich sind die beiden Geschäftsführerinnen der Diakonie Hamburg-West/Südholstein. (Impressum)

NIEMALS RATLOS

Das hätte was: immer gleich zu wissen, wo es langgeht. Unsere Beraterinnen und Berater starteten im Nebel, als sie ihre Arbeit auf Telefon und Online-Kontakte umstellten. Den Kontakt zu den Ratsuchenden behalten, ihnen zeigen, dass es weitergeht. Das war am Anfang wichtig und hat im Wesentlichen geklappt. Jetzt ist die Sicht klar. Alles bereit, um die Richtung zu finden.

Jetzt geht es darum, die Zeit zu nutzen, sich auszutauschen. Rat einzuholen, um Rat geben zu können. Ein Blog ist in dieser Zeit des rasenden Stillstands ein Mittel die Arbeit zu reflektieren.

Thematisch dreht sich dieses Blog um Beratung. In der Begrenzung liegt die Chance. Es geht um Fragen im Nahbereich. Hier wird nicht das große Rad gedreht. Das sollen die Spitzenverbände tun. Das Blog arbeitet ihnen zu, mit Stimmen von der Basis.

  • Beratende der Diakonie sind herzlich eingeladen.
  • Ebenso Beschäftigte anderer Träger.
  • Auch Menschen, die von der Diakonie beraten werden, sind hier gern gesehen.
  • Mitmachen dürfen alle, die an guter Sozialberatung interessiert sind.

Die Diskussionen werden nicht mit dem Ende der Ausgangssperre enden. Womöglich gehen sie dann erst los. Das Blog soll so lange laufen, wie es genutzt wird und nützt.

An dieser Stelle werden dann zwei- bis dreimal in der Woche neue Beiträge eingestellt. Dafür liefern Beratende Texte oder Stichworte, die der Redakteur zusammenstellt und in Form bringt.

  • Beiträge sollten 3.000 Zeichen, incl. Leerzeichen, nicht überschreiten.
  • Wer keine Zeit hat, selbst zu schreiben, kann seinen Beitrag mit dem Redakteur besprechen.
  • Erwünscht sind auch Kommentare. Sie werden gelesen und als Anregung für neue Fragestellungen genutzt.

Sollten Sie schon eine Idee haben, schicken Sie Ihren Text an die Geschäftsstelle: annette.fey(at)diakonie-hhsh.de.

Telefonisch erreichen Sie die Redaktion unter 0171 834 89 64: Redakteur ist Stefan Moes, der als freier Mitarbeiter die Kampagne „Diakonie. Gut beraten“ mitentwickelt hat.

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Eine Dusche für Menschen auf der Strajße